Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 14: Kinmitsu - Nähe --------------------------- Aoi:   Ich bin tatsächlich eingeschlafen, ist das zu fassen? Gähnend laufe ich neben Uruha her und versuche, wieder etwas Wacher zu werden. Die kalte Nachtluft hilft mir dabei leider nur wenig und sorgt vielmehr dafür, dass ich zu zittern beginne. Ob Uruha weiß, wie sehr ich ihm vertraue, um mich so in seiner Gegenwart entspannt zu haben? Ich bin grundsätzlich nervös, wenn ich unterwegs bin, und Bahnfahren ist da keine Ausnahme. Immer hängt mir die Angst im Nacken, die Durchsagen nicht richtig zu verstehen und zu weit zu fahren oder an einem Bahnhof zu stranden, an dem ich mich nicht auskenne. Früher, als ich noch mehr gesehen habe, konnte ich besser mit unvorhergesehenen Ereignissen umgehen, aber nun? Nun bin ich zu einem wahren Kontrollfreak mutiert, der jede Eventualität mindestens einmal im Kopf durchspielen muss, bevor er sich überhaupt traut, das Haus zu verlassen. Einschlafen in der Bahn? Horrorszenario Nummer eins, selbst wenn Reita mich begleitet.   Reita. Ich verziehe kurz die Lippen, als mir seine Besorgnis wieder in den Sinn kommt. Ich weiß, dass er es nur gut meint, und wäre ich an seiner Stelle, würde ich mir ebenso Sorgen um ihn machen. Dennoch … Ich fürchte mich davor, irgendwann zu einer Belastung für ihn zu werden, darum bin ich froh, dass er mit den anderen noch etwas trinken gegangen ist. Trotz seiner anfänglichen Skepsis Ruki gegenüber hatte ich vorhin den Eindruck gewonnen, er fände Uruhas Arbeitskollegen mittlerweile doch nicht mehr so übel. Was einhundertfünfunddreißig Minuten Film nicht alles bewirken können. Ich muss ihn morgen fragen, wie Kai und Ruki das angestellt haben. Kurz huscht ein Lächeln über meine Lippen. Reita soll Spaß haben und sich nicht ständig um mich kümmern müssen. Die Zweifel kann ich aber trotzdem nicht abstellen. War es in Ordnung, allein mit Uruha nach Hause zu fahren? Reita meinte zwar, es wäre an mir, ihm alles zu sagen, aber sollte er nicht auch dabei sein? Immerhin geht es nicht nur um mich. Ich unterdrücke ein Seufzen und lehne mich ein wenig stärker gegen Uruha. Ich kann seine Körperwärme selbst durch unsere Winterjacken hindurch spüren und sie vertreibt ein wenig das Frösteln, das von mir besitzergriffen hat. Als wir unter dem Schein einer Straßenlaterne hindurchgehen, hebe ich den Kopf, versuche, sein Profil zu erkennen. Aber er sieht konzentriert nach vorne und seine Haare verbergen sein schönes Gesicht vor mir. In meinem Inneren breitet sich unangenehme Unruhe aus, als ich den Kopf wieder senke. Ich fühle mich zwiegespalten, eine Emotion, die ich bislang in seiner Gegenwart noch nicht gespürt habe und auf die ich gut und gern hätte verzichten können.   „Da sind wir“, murmelt Uruha. Im selben Moment springt die automatische Beleuchtung über der Eingangstür an und hüllt uns in gelbliches Licht. Ich blinzele, so in meinen Gedanken versunken, dass ich kaum etwas von unserem Weg mitbekommen habe. Oh Mann, er muss mich für einen ausgewachsenen Griesgram halten.   „Tut mir leid“, sage ich zerknirscht und krame in meinem Rucksack nach dem Hausschlüssel. „Ich wollte dich nicht die ganze Zeit über anschweigen, keine Ahnung, was gerade mit mir los ist.“   „Du bist müde, das ist dir nicht zu verübeln. Mir geht es, um ehrlich zu sein, nicht anders.“   „Du …“ Ich räuspere mich und nehme allen Mut zusammen. „Wenn du magst, kannst du sehr gern über Nacht bleiben.“ Das Angebot kommt mir nur stockend über die Lippen und nun hängt es wie etwas Lebendiges zwischen uns. War das zu vorschnell? Schließlich kennen wir uns noch nicht lange und Uruha sagte vorhin noch, dass er froh sei, wenn er wieder allein und weg von all den Leuten wäre. Vielleicht hat er damit auch mich gemeint?   „Das ist … wirklich nett von dir, aber … Ich will dir keine Umstände machen und außerdem …“ Er senkt den Kopf, als wäre ihm das Thema unangenehm und ich befürchte, dass es das auch ist. „So weit ist es nicht zurück zum Bahnhof.“   „Mh, stimmt aber …“ Ich beiße mir auf die Unterlippe, schaffe es jedoch nicht, den Mund zu halten. „Du musst noch bis nach Hause fahren, das dauert auch seine Zeit. Ich will dir nichts aufschwatzen, aber schlauer wäre es, du würdest hierbleiben.“   „Ich … ehm …“ Ich seufze innerlich und gebe auf. Das Thema ist ihm definitiv unangenehm und es ist nicht fair von mir, länger darauf herumzureiten. Ich hätte erst gar nicht damit anfangen sollen, aber … aber … Etwas in mir will ihn einfach nicht gehen lassen.   „Du schläfst nicht gern in fremden Betten, was?“ Uruha entkommt ein peinlich berührtes Auflachen und erst da bemerke ich, wie zweideutig meine Frage klingen muss. „Oh verdammt“, hauche ich und reibe mir nun ebenfalls beschämt über den Nacken. „Tut mir leid, so war das wirklich nicht gemeint.“ Ich spüre meine Wangen brennen. Himmel Aoi, erst denken, dann reden.   „Es ist …“ Uruhas Lachen wird deutlicher, gelöster und entlockt mir damit ein kleines Schmunzeln. „Ich habe dich schon richtig verstanden, es klang nur im ersten Moment …“   „Wie eine plumpe Anmache.“   „Nein.“ Er schüttelt den Kopf und berührt meinen Handrücken. Reflexartig ergreife ich seine Finger, verschränke sie mit den meinen und drücke leicht zu. „Es klang einfach eigenartig.“ Er schnaubt amüsiert. „Aber du hast recht, ich übernachte tatsächlich nicht gerne wo anders.“ Er schenkt mir ein verschämtes Schmunzeln und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie ein Mann so niedlich sein kann? Mein Magen kribbelt und es fällt mir unendlich schwer, meinen Blick von seinen vollen Lippen zu nehmen. Wie gern würde ich … Ich schüttele den Kopf, um diesen Gedanken wieder loszuwerden, und erwidere stattdessen sein Lächeln.    „Ich versteh das, mir geht es ähnlich. In den eigenen vier Wänden fühle ich mich noch immer am wohlsten.“   „Sagst du das jetzt nicht nur, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen?“   „Ach Uruha.“ Ich drücke die Haustür nach innen auf und schiebe gleichzeitig meine freie Hand durch den breiter werdenden Spalt, um das Licht im Foyer anzuschalten. „Du brauchst deswegen sicher kein schlechtes Gewissen zu haben.“   „Aber … ich …“ Er seufzt und fährt sich durchs Haar, bevor er beinahe hektisch wieder einige Strähnen zurück in sein Gesicht kämmt. Mir wäre das nicht aufgefallen, hätte ich ihn in diesem Moment nicht so intensiv gemustert. Eigenartig.   „Uruha? Alles in Ordnung?“   „J- ja. Es ist nur …“ Er beißt sich auf die Unterlippe und ich muss dem Drang widerstehen, seinen Mund zu berühren, um ihn davon abzuhalten. Seine schönen Lippen. Wieder drücke ich seine Finger, will, dass er weiterspricht. Was beschäftigt ihn? „Ist es anmaßend von mir, wenn ich dich jetzt trotzdem frage, ob ich noch kurz mit reinkommen kann?“ Wie bitte? Ist das der Grund, weshalb er so herumgedrückt hat? Wärme steigt in mir auf und ich werfe jede Art von Etikette oder vielleicht sogar meinen gesunden Menschenverstand über Bord, als ich seine Finger loslasse, um stattdessen näher an ihn heranzutreten und meine Arme um seine Mitte zu legen. Mein Kopf findet wie automatisch seinen Platz an seiner Schulter und ich atme tief seinen angenehmen Duft ein. „A- Aoi?“   „Mein Angebot, hier zu übernachten, war sicher anmaßender, als deine Frage, ob du noch mit reinkommen kannst. Ich hätte dir auch einfach sagen können, dass ich dich noch nicht gehen lassen will, nicht wahr? Das hätte uns die Peinlichkeit gerade eben erspart.“ Ich lache leise gegen den Stoff seines Mantels und seufze, als ich spüre, wie sich seine Arme auch um mich legen. „Also wenn du noch nicht die Nase voll von meiner Gegenwart hast, würde ich mich freuen, wenn unser gemeinsamer Abend hier und jetzt noch nicht vorbei ist.“ Nun höre ich auch aus seinem Mund ein leises und deutlich erleichtertes Ausatmen, während er den bis eben lockeren Druck seiner Arme verstärkt.   „Wir sind zwei wirklich seltsame Köpfe, was?“   „Das kannst du laut sagen.“ Ich löse mich nur unwillig und mache eine einladende Handbewegung in Richtung des Hausinneren. „Aber dann lass uns wenigstens nicht noch seltsamer sein und drinnen weiterreden.“   „Gerne. Langsam wird mir doch kalt.“   „Dagegen weiß ich das beste Mittel.“   „Ja? Welches denn?“   „Meine hausgemachte heiße Schokolade. Warte es nur ab, wenn dir danach noch immer nicht warm ist, stimmt irgendetwas nicht.“   „Das klingt großartig.“   Wir entledigen uns unserer Jacken und Schuhe und schlüpfen in die Hauspantoffeln, bevor wir die Treppe nach oben nehmen. Ich knipse im Vorbeigehen sämtliche Lichter an und erinnere mich wieder daran, dass ich endlich einen Termin mit dem Elektriker vereinbaren muss. Reita meint zwar, wir könnten uns das Geld sparen und die Bewegungsmelder im Haus selbst einbauen, aber darauf warte ich bereits Monate. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das in diesem Leben nichts mehr wird, wenn ich die Sache nicht selbst in die Hand nehme.   „Mach es dir gemütlich“, sage ich und deute zum Küchentisch, während ich Milch aus dem Kühlschrank und die Schokolade aus einem der Küchenschränke nehme. „Magst du auch einen Schuss Rum hinein?“   „Mhmh, das schadet zum Aufwärmen sicher nicht.“   Ich grinse und nicke vor mich hin, hole einen Topf hervor und beginne damit, die Milch aufzuwärmen. Zwischendurch rühre ich in regelmäßigen Abständen um, damit nichts anbrennt, aber der größte Teil meiner Aufmerksamkeit liegt weiterhin auf Uruha. Meine bis gerade gelöste Stimmung trübt sich ein, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Wieder muss ich an Reitas Worte denken, dass ich für klare Verhältnisse sorgen muss. Ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen oder zerstöre ich mit der Wahrheit dieses noch so fragile Band, das ich immer spüren kann, wenn Uruha in meiner Nähe ist?   „Ich bin froh, dass du hier bist“, beginne ich etwas einfallslos, weil ich nicht weiß, wie ich sonst anfangen soll. Uruha hebt den Kopf und ich kann mir gut vorstellen, dass seine Augen nun fragend auf mir ruhen. „Ich wollte mit dir reden.“   „Ja? Worüber denn?“ Bilde ich es mir nur ein, oder liegt ein feines Zittern in seiner Stimme? So ein Mist, ich wollte ihn nicht verunsichern. Ich bin so ein Trampel.   „Über Reita … und mich.“   „Oh … ach so.“ Ich drehe mich zu ihm, versuche ihn zu erkennen, aber seine Augen verschwinden hinter seinen Haaren, als er den Kopf senkt, und seine Hände bewegen sich nervös in seinem Schoß. „Wa- was willst du mir denn über euch erzählen?“ Nun klingt seine Stimme definitiv verunsichert und so, als würde er nicht hören wollen, was ich ihm zu sagen habe. Himmel, am liebsten würde ich nichts sagen und die Sache auf sich beruhen lassen, aber das wäre unfair. Ihm und auch Reita gegenüber.   „Mir … uns ist aufgefallen, dass du …“ Ich schüttele sacht den Kopf im verzweifelten Versuch, meine wirbelnden Gedanken zu sortieren. Noch nie ist es mir so schwergefallen, die richtigen Worte zu finden, und ich begreife nicht, warum das bei Uruha so anders ist. „Du fragst dich sicher, wie Reita und ich zueinanderstehen, stimmt‘s?“ Wieder suche ich seinen Blick, aber er sieht unverwandt auf die Tischplatte und rührt sich nicht. Ich seufze leise.  „Nun ja, zumindest ging das noch jedem so, der uns kennengelernt hat. Selbst Tora. Und, na ja, nachdem ich das weiß, wollte ich das klarstellen.“   „Mhmh“, macht Uruha, sieht mich jedoch noch immer nicht an.   Ich drehe mich kurz zum Kochtopf, ziehe ihn von der Hitze, bevor ich die duftende Schokolade in die mittlerweile heiße Milch bröckle und umrühre. Prokrastiniere ich? Definitiv. Mein Blick verliert sich in dem hellbraunen Strudel und ich hätte die Zeit vergessen, hätte Uruha nicht zaghaft meinen Namen gesagt.   „Entschuldige.“ Ich unterdrücke den Drang, einen Rückzieher zu machen oder wahlweise fluchtartig den Raum zu verlassen. Verdammt, was ist denn nur los? Schließlich hat es mich noch nie gestört, was andere von Reita und mir denken. Wenn sie mit unserer Art zu leben nicht zurechtkommen, ist das ihr Verlust nicht unserer. Aber Uruha. Mit ihm ist das etwas anderes. Er ist viel wertvoller und ihn will ich um nichts in der Welt vergraulen. „Du musst bemerkt haben, dass du mir wichtig bist“, sage ich und überwinde die wenigen Schritte, die uns trennen. Direkt vor seinem Stuhl gehe ich in die Hocke, halte an seinem Oberschenkel die Balance, während ich mit meiner freien Hand langsam und vorsichtig über seine Haare streichle. Er zuckt kaum merklich zusammen und wieder frage ich mich, was los ist, warum er sich heute bereits mehrmals fast schon vor mir versteckt hat. War das schon immer so? Warum?   Bevor ich ihn fragen kann, hebt er den Kopf und mit einem Mal finde ich mich gefangen in seinem Blick wieder. Er hat schöne Augen, ist das erste, was mir nach gefühlten Minuten des Nichts wieder in den Sinn kommt. Noch nie bin ich ihm so nah gewesen, dass ich seine Iris sehen konnte. Ihr Braun ist warm und erinnert mich an dunklen Waldhonig. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass ich diese Farbe nie vergessen werde, selbst wenn irgendwann alles in der Schwärze meines Sehverlustes versunken sein wird.   „Du …“ Er räuspert sich leise, blinzelt einmal ganz langsam, bevor er mich wieder ansieht. Ich fühle seinen Atem auf meinem Gesicht, so nahe sind wir uns. „Du bist mir auch wichtig, sehr sogar“, wispert er und ich kann nicht anders, als mich noch etwas weiter vorzulehnen. Es ist der falsche Moment, wir sollten reden, aber seine Körperwärme ist mit einem Mal wie ein Sirenenruf, der mich näher, immer näher lockt. Die Gedanken fliegen aus meinem Kopf, wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel, und lassen nur einen einzigen zurück.   ‚Ich will ihn küssen.‘ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)